
Drahtseil-Akt
Erste Erfahrungen mit Harleys Elektrohobel
Mit der LiveWire präsentiert Harley-Davidson das erste elektrisch angetriebene Motorrad eines Großserienherstellers. Damit ist der amerikanische Brülleisen-Fabrikant auf einmal schwer auf Draht und der Konkurrenz unter den etablierten Motorradherstellern nicht wirklich unbemerkt, aber vor allem deutlich enteilt. Während die Konkurrenz jüngst erst erste Prototypen präsentierte, ist die LiveWire bereits in Serienproduktion und wird in den USA schon an die Kunden ausgeliefert. In Deutschland und Österreich werden die ersten bereits vorbestellten Exemplare Anfang des neuen Jahres an die stolzen Besitzer übergeben.
Wer dieses Motorrad „blind“ bestellt hat, also ohne, es vorher gefahren zu sein, kann sich nun entspannt zurück lehnen. Denn so viel darf vorab verraten werden. Diese neue Harley kann zwar nichts, was die bisherigen typischen Milwaukee-V2 ausmachte. Dafür kann sie aber alles, was ihr bisher an euren geliebten Knatter-Kisten vermisst habt. Und ich denke, genau das war das Ziel der gut 10jährigen Entwicklungsphase der LiveWire.
Angst haben, vor einem ent-oder-weder Szenario muss man derweil auch nicht. Harley-Davidson betont, dass man den Verbrenner-V2 so lange weiter bauen wird, wie es Benzin auf diesem Planeten gibt. Also auch hier ist Entspannung angesagt. Die LiveWire ist als Ergänzung zur bisherigen Modellpalette gedacht. Nicht, als Ersatz.
Ihr Herzstück ist ein flüssigkeitsgekühlter Dreiphasen-Permanentmagnet-Synchronmotor, der für eine Spitzenleistung von 78 kW (106 PS), eine Dauerleistung von 60 kW (82 PS) und ein Drehmoment von 116 Nm sorgt, das ab der ersten Radumdrehung anliegt. Der Motor wird gespeist von einem Lithium-Ionen-Akku mit einer maximalen Kapazität von 15,5 kWh, der an Haushaltssteckdosen, Ladesäulen und Schnellladestationen mit Strom versorgt werden kann, was bei einer Schnellladung in 40 Minuten (0 – 80% Ladung) beziehungsweise 60 Minuten (0 – 100 % Ladung) möglich ist. Je nach Einsatzzweck und Messverfahren beträgt die Reichweite dann 153 bis 235 Kilometer.
Die Maschine verfügt über sieben Fahrmodi und über ein elektronisches Assistenzsystempaket, das die Beschleunigungs-und Verzögerungskräfte an die verfügbare Reifenhaftung anpasst. In der LiveWire arbeitet es mit Antiblockiersystem (ABS), Kurven-Antiblockiersystem (C-ABS), Traktionskontrolle (TCS),Kurven-Traktionskontrolle (C-TCS), Antriebsschlupfregelung (DSCS) und Kurven-Antriebsschlupfregelung (C-DSCS). Die LiveWire bietet außerdem ein Connect-System, das den Fahrer per Mobilfunk-App mit Informationen zum Fahrzeug versorgt. Verfügbare Ladestationen werden ebenfalls per App angezeigt.
Unplug and Play
Soviel zu den technischen Daten und Besonderheiten der neuen Begriffs und Wichtigkeiten der Elektromobilität. Doch gerade bei einem Elektrofahrzeug stellt sich uns vor allem die Frage: Wat geht ab, wenn man am Draht zieht? Ungeduldig lauschen wir den letzten Instruktionen des Marketing- und Press-Offiziers, bevor wir endlich aus den Hallen der Harley-Davidson-Techniker-Schule out of Barcelona nahezu lautlos ins Hinterland der katalanischen Metropole entschwinden dürfen. Hat man den Apparat angeschaltet, informiert das sehr übersichtliche Dashboard über Ladezustand und Reichweite, während die Powerunit tief drunten am sehr konzentrierten Massenschwerpunkt anfängt zu pulsieren. Ein dezent spürbarer Herzschlag, der in etwa dem sehr langsamen Standgas-Rythmus eines quer eingebauten 45 Grad V-2 Motors mit nur einem Hubzapfen ähnelt. Potato – Potato – Was für ein Zufall!
Linke Hand und linker Fuß sind nahezu arbeitslos. Denn der Elektromotor braucht weder Kupplung, noch ein Schaltgetriebe. Und auch eine Variomatik, wird, aufgrund des konstant maximalen Drehmomentes des Elektromotors nicht benötigt. Bekannt aus ICE und Straßenbahn. Man dreht einfach an dem Ding, das kein Gasgriff ist, und beamt sich, je nach eingestelltem Modus, mehr oder weniger rasant und nahezu lautlos durch die Gegend. Das einzig hörbare Fahrgeräusch stammt von der schrägverzahnten Teller- und Kegelraduntersetzung im Ölbad mit der die Kraft des längs liegenden Motors in einem Übersetzungsverhältnis von 9,71:1 auf den Endantrieb übertragen wird. Sie sorgt für das charakteristische turbinenartige Fahrgeräusch der LiveWire. Ein Sound, dessen Tonhöhe und Lautstärke mit zunehmender Geschwindigkeit ansteigen. Der Zahnriemenantrieb zum Hinterrad ist nochmals im Verhältnis 3:1 übersetzt.
World‘s fastest Harley Davidson
Die LiveWire dürfte die wohl derzeit schnellste Serien-Harley sein, die man kaufen kann. Dank Traktions- und Wheelie-Control kann im Sport-Modus ein Ampelstart zelebriert werden, der jedem Fahrer der Panigale oder R1 Fraktion Tränen in die Augen treiben wird. Und das kinderleicht. Immer wieder abrufbar. Einfach am – ja, wie heißt er denn nun – drehen und ab geht die Post. Von Null auf Hundert in 2,9 Sekunden. Da muss man schon ein sehr versierter Könner der Gas- und Kupplungs-Koordination sein, um die 200 PS seines Verbrenner-Renners ebenso zuverlässig in Vortrieb zu verwandeln. Natürlich gibt es auch V-2 Harleys, die aus dem Stand heraus und geradeaus ganz gut beschleunigen.
Doch ab der ersten Kurve zeigt die LiveWire, wo sie eigentlich zu Hause ist. Im Winkelwerk wird diesen Apparat kaum einer abhängen können. Da hat Harley sich nicht lumpen lassen und mit volleinstellbaren Showa Upside-down Gabel und Mono-Shock-Federbein, sowie Brembo-Monoblock Radialbremsanlage dem ultrastabilen Alurahmen und dem mächtigen Elektroantrieb genau das richtige Werkzeug angepasst, um präzise durch jedwede Kurvenkombination zu eilen. Im ersten Kreisverkehr wären wir fast allesamt mit unseren LiveWires nach innen umgekippt, weil niemand diese Agilität erwartet hatte. Steiler Lenkkopfwinkel, breiter Superbikelenker, ein schmaler – nenn mich nicht – Tank und eine ebenso grazile Sitzbank, die zum besseren Schenkelschluss sogar den Rahmen und den – nenn mich doch einfach Stromeinfüllstutzenbehälter – mit einfasst. Überhaupt wirkt die LiveWire aus Fahrersicht betrachtet eher zierlich als wuchtig. Kurz und kompakt. Mit der RESS Akkueinheit und dem längs darunter hängenden Motor sowohl als physikalischem, wie auch visuellem Schwerpunkt deutlich erkennbar gut zentralisierten Massen, könnte man fast meinen, eine elektrifizierte Reinkarnation der Buell XB Reihe zwischen den Beinen zu haben. Wobei die LiveWire noch mal deutlich besser und homogener fährt.
Harley-Davidson ist es tatsächlich gelungen, mit der LiveWire ein sehr ernstzunehmendes neues Motorrad-Modell zu entwickeln. Das zudem mit einem ausgereiften und alltagstauglichen Elektroantrieb ausgestattet ist. Mit einem Verkaufspreis von 32.000 Euro liegt das Fahrzeug im oberen Preissegment der bisherigen Verbrennerflotte aus Milwaukee und dürfte für jeden Harley-Fan eine interessante Ergänzung seines Fuhrparks darstellen. Spätestens, wenn die ersten LiveWires bei den Händlern stehen und auch mal Probe gefahren werden können, wird sich die Anzahl derer, die eine LiveWire erwerben wollen, drastisch erhöhen. Und auch unter den Anhängern der Elektromobilität wird es ab sofort sehr en vogue sein, auch mal bei Harley in die Auslage zu schauen. Denn Harley hat gegenüber den reinen Elektro-Motorrad-Anbietern einen gewaltigen Vorteil. 117 Jahre Erfahrung im Motorradbau. Und das macht sich beim Gesamtkonzept deutlich bemerkbar.
Als uns die Einladung zur Testfahrt hier in die Redaktion flatterte hätte ich nicht gedacht, dass mein einziger Verbesserungsvorschlag nach der Testfahrt eine etwas weichere Fahrwerksabstimmung sein würde. Und was die Optik betrifft, muss unbedingt diese Kotflügel-Kennzeichen-Rücklicht-Kombi einer deutlich filigraneren Lösung Platz machen. Aber dafür hat man bei den Harley-Davidson Händlern und Harley-Zubehör Anbietern ja reichlich Spezialisten.
Auf die Akku-Ladeeinheit, das sogenannte RESS, gibt Harley fünf Jahre Garantie.
Text: GID
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